Du bist schuld!

von Franz Arndt (Kommentare: 0)

Bild: Privat
Gastbeitrag

Franz Arndt macht sich Gedanken zum Thema „Schuld“ und erklärt zum Hintergrund:
Wir leben in einer Zeit, wo die Schuldfrage, medial befeuert, durch alle Bewusstseinsritzen zu kriechen scheint. Selten bemerkt, spielen wir uns allzu oft zu Richtern auf: Flüchtlinge, Klima, Covid, Ukraine - und wieder Flüchtlinge und dazwischen wir selbst.

Es ist schwer zu verstehen, warum sich so viele Menschen aus allen Schichten unreflektiert von der Schuldfrage dieser Tage bedingungslos vereinnahmen lassen. Um die Schuldfrage zu klären, bräuchte es eigentlich Beweise. Wer fragt danach? Wo gibt es diese? Wie vertrauenswürdig sind sie? Gerade der Ukrainekonflikt stellt die Frage nach der Schuld in scharfer Weise an jeden Einzelnen von uns, auf allen Ebenen. Wer sich von Schuld frei fühlt, "der werfe den ersten Stein" (Johannes Kapitel 8, Vers 7). Diese Frage nach der Schuld hat mich zu diesem Text inspiriert.

Das kennen wir seit Kindesbeinen: Du bist schuld, dass meine Puppe einen Flecken hat! Du bist schuld, dass mein Förmchen kaputt ist! Später dann: Du bist schuld, dass ich schlechte Laune habe! Du bist schuld, dass ich die rote Ampel übersehen habe. Oder noch später: Du bist schuld, dass unsere Ehe zerbrochen ist! In diesen Tagen heißt es: Du bist schuld, wenn Oma und Opa sterben, nur weil du keine Maske trägst. Oder: Das Virus ist schuld, dass bei uns ein Lockdown nach dem anderen, eine Maßnahme nach der anderen notwendig waren, dass jetzt alle geimpft werden sollen, dass wir "Krieg gegen Covid" (Aussage von Emmanuel Macron, Präsident von Frankreich) führen. Und jetzt: Putin ist schuld am Ukraine-Krieg. Die Reihe ließe sich endlos fortführen.

Die Geste ist in jedem Fall dieselbe: Der andere ist schuld, nicht ich. Ich wasche meine Hände in Unschuld – wie einst Pontius Pilatus. Der hatte wohl auch gedacht er trage keine Verantwortung, keine Schuld am Tod dieses Gerechten, bevor er Jesus dann zum Tod am Kreuz verurteilte. Wir merken, dass das Thema Schuld-haben uns seit Kindesbeinen begleitet und in allen Lebensfeldern eine Rolle spielt. Als Erwachsene dann sprechen wir, unbewusst übernommen: "Du bist schuld", eine moralische Keule, so scharf wie eine Waffe, manchmal sogar mit lebenslänglicher Wirkung.

Kann es sein, dass dieser Ausspruch mehr über uns selbst aussagt, über unser Verwobensein mit dem Geschehen, mit dem Beschuldigten, als uns lieb ist? Warum haben wir es nötig, dem Beschuldigten die Schuld zuzuschieben, anstatt uns zu fragen, was haben wir mit seinem "Schuldig-werden" zu tun - ohne deswegen die Schuldfrage zu verwässern?

Als Kain seinen Bruder erschlagen hatte, kam er anschließend nicht vor ein Standgericht, sondern er bekam eine Aufgabe: sich im Dienst an der Erde zu bewähren, sich aus seiner Täterschaft durch konkrete Arbeit in der Welt zu entschulden, zu befreien. Seine Schuld war eindeutig festgestellt, seine Tat hatte Folgen. Die Täterschaft des Kain hatte eine Vorgeschichte, die man nachlesen kann. Der Kain in uns, können wir ihn erkennen?

Es ist wieder Krieg in Europa, wie in den 90er Jahren im damaligen Jugoslawien. – Wer den ersten Schuss abfeuert, ist der Schuldige! Vom Geschehen her ganz klar. Wie bei Kain. Putin ist schuld, denn "er" hat den ersten Schuss abgegeben. Dieser erste Schuss, auch er hat eine Vorgeschichte. Auch das kann man nachlesen. Im Kontext der verbreiteten Meinung jedoch stellt sich diese Frage sehr selten. Alles ist so eindeutig und klar! Oder? Und weil das so ist, ist fast jede Strafmaßnahme gerade recht. Wer nicht mitmacht, macht sich mitschuldig. Das kennen wir aus vergangenen Zeiten.

Auch wenn die Schuldfrage im Ukraine-Konflikt nicht zielführend ist, wir pflegen sie dennoch und unbedingt, mit allen Konsequenzen! Wir tun so, als ob wir nichts damit zu tun hätten (Pilatus-Reflex). Aber nur so können wir den anderen mit moralischer Überlegenheit bestrafen. Auf jeden Fall strafen! Das Mittelalter lässt grüßen. Nach USA-Vorbild scheint es überhaupt keine andere Möglichkeit im Umgang miteinander zu geben: Und willst du nicht so, wie ich es will, dann bestrafe ich dich, bis du in die Knie gehst. Und fast alle machen in blindem Gehorsam und moralischer Empörung mit. Fragt da jemand nach schuldhaft eigenem Verhalten, jetzt und in der Vergangenheit?

Im ersten Weltkrieg gab den ersten Schuss das österreichische Binnenkriegsschiff SMS Bordrog am 29. Juli kurz nach 2 Uhr in Belgrad ab (im Verband mit den Kriegsschiffen Temes und Számos der österreichischen Marine; Quelle: Wikipedia). Das Deutsche Reich trat am 1. August 1914 durch Kriegserklärung in den Krieg ein. Ein komplexes Geflecht von Akteuren, vertraglichen Zusammenschlüssen und Abhängigkeiten sowie Macht- und Einflussstreben lässt ohne Mühe erkennen, dass die Frage der Schuld nicht so eindeutig zu klären ist, wie sie anschließend dargestellt wurde. Im Geschichtsunterricht wurde uns Schülern die Schuldfrage als eindeutig geklärt vorgestellt: Wir waren schuld! Wer war dieses "Wir" im Geschichtsunterricht? Im Versailler Vertrag beantwortet der Artikel 231 die Kriegsschuldfrage eindeutig, indem Deutschland und seine Verbündeten „Urheber aller Verluste und aller Schäden“ sind. Diese Schuldfrage zog dann die wahnwitzigen Reparationszahlungen nach sich, deren letzte Zahlung, Rate und Tilgung 2010 erfolgte. Es fehlten noch vier Jahre, um den 100sten Geburtstag des Geschehens zu "feiern".

Fazit: Seien wir also achtsam mit uns und anderen, wenn wir die Schuldfrage stellen und noch mehr, wenn wir sie beantworten wollen. Was ist, wenn der Klimawandel "gestoppt", Covid "besiegt" ist und in der Ukraine wieder Waffenruhe herrscht? Was machen dann all die Richter mit ihren Standgericht-artigen Schuldsprüchen? Wurden sie selbst zu Schuldigen?

Unser Gastautor Franz Arndt ist 72 Jahre alt, verheiratet und Vater von fünf Kindern.
Er ist Lehrer und Diplom-Ingenieur und war Waldorflehrer für Physik und Mathematik.



Begleiten und unterstützen SIE bitte wohlwollend unsere „unabhängige Schreibe“. Journalistische Arbeit hat ihren Wert und einen Preis, daher freue ich mich besonders das dennoch NIEMAND bei stattzeitung.org vor einer Bezahlschranke landet! Unsere Information soll für JEDE und JEDEN gleichermaßen zugänglich sein. Wir tun dies im Vertrauen darauf, breit getragen zu werden.

Spenden Sie bitte per Überweisung:
IBAN: DE03690618000005388201
BIC: GENODE61UBE
Bank: Volksbank Überlingen e.G.
Kontoinhaber: Stef Manzini
Verwendungszweck: „Schenkung“

Oder per PayPal:


Oder per Patenschaft:
Patenschaft

Danke!


Zurück

Kommentare

Einen Kommentar schreiben

Bitte rechnen Sie 4 plus 3.

Der abgeschickte Kommentar wird vom Autor nach Prüfung veröffentlicht und gegebenenfalls beantwortet. Dies kann, je nach vorhandenen Ressourcen, einige Zeit dauern. Wir bitten um Verständnis, dass wir nur Kommentare mit Angabe des vollständigen Vor- und Nachnamen veröffentlichen werden.